Helmut Wulz hat am Samstag, dem 29. April 2023 am späten Nachmittag zu Hause im Kreis seiner Familie friedlich seine letzten irdischen Atemzüge getan. Er hatte 1965 und 1966 gemeinsam mit Anton Anderluh die 14. und 15. Kärntner Singwoche geleitet. Im Jahr 1967 übernimmt er bis zum Jahr 2018 die alleinige Leitung der Kärntner Singwoche. In diesem Jahr hat er gemeinsam mit Michael Poglitsch und mit den Sängerinnen und Sängern der Singwoche noch viele schöne Lieder einstudiert und aufgeführt. 2019 war er noch einmal am Turnersee bei der Singwoche, erarbeitete mit den Sängerinnen und Sängern trotz merkbarer Krankheit das von ihm nach dem Text von Ingeborg Ott komponierte Lied “Dei Liad”, dass er am Abschlussabend noch selber dirigierte.

Dei Liad

I hear dei Liad, wo immer i geah,
i hear dei Stimm weit untn ban Sea.
Dei Stimm, dei Liab, deine Wort.

I siach dei Gstålt, dei zitternde Hånd;
schau deine Augn seint weites Lånd.
Deine Augn, dei Liacht glånzt in mir.

Kålt is da Tåg in tiafastn Schnea;
weit furt bist gång, kimmst hinta nit mehr.
Dei Liad, dei Klång is bei mir.

Wie wichtig ihm die Kärntner Singwoche war, hat er nicht nur während den unzähligen Wochen gezeigt, die er die Singwoche geleitet hat. Auch in dem Text, den er in der Festschrift zur 50. Kärntner Singwoche am Turnersee verfasst hat, ist diese Verbundenheit sehr stark zu spüren. Deswegen lassen wir Helmut durch den nachstehenden Text, der auch heute noch Gültigkeit hat, selber zu Wort kommen:

Lebenslinien einer in die Jahre gekommenen Singwoche

Als Anton Anderluh und Franz Koschier im Jahr 1952 zur ersten Kärntner Singwoche am Turnersee aufgerufen hatten, da wagten selbst die begeistert- sten Anhänger nicht, daran zu glauben, dass sich diese Singwochen bis in das 21. Jahrhundert hinein erhalten würden.

Nur wenigen ist heute noch die bedrückende Situation der Nachkriegsjahre gegenwärtig, aus der heraus Anderluh seinen ersten Aufruf verfasste. Aus dem gemeinsamen musischen Erleben schöpften viele neue Lebenskraft, fanden Menschen mit ähnlichen kulturellen Interessen zueinander. Und sie kamen alle Jahre wieder an den Turnersee, brachten Freunde mit und festigten damit den weiteren Bestand dieser unverwechselbaren musischen Woche im Herzen Südkärntens.

Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre ist auf die Singwochenidee nicht ohne Einfluss geblieben. Es sind zum Teil andere Gründe, die den jungen Menschen von heute an den Turnersee ziehen lassen. Die Romantik der Landschaft, in die dieses Kleinod der Kärntner Seen eingebettet ist, lockt über Zeiten und Generationen hinweg, sich hier wenigstens für kurze Zeit niederzulassen. Man entdeckt die Möglichkeit, aus dem kontaktarmen Alltag auszubrechen und sich in eine Gemeinschaft einzubringen, die wenigstens vorübergehend kultivierte Gestaltungen des Lebens zu entwickeln versucht. Die Mittel dazu sind Gesang, Musik und Tanz in ihrem harmonischen, rhythmischen, dynamischen und bewegungsmäßigen Wechselspiel von Spannung und Lösung, welche die Freude am Schönen in einer freien Gemeinschaft erfahrbar machen.

Uneingeschränkte Freiheit kann allerdings nicht die Basis einer Singwoche sein, die sich musikalische Ziele setzt und ihre Arbeit öffentlich präsentieren möchte. Dazu gibt es zwar keine Verpflichtung. Der Antrieb kommt vielmehr aus der Musik selbst. Ähnlich wie in der Orchestermusik erschließt auch der vielstimmige Gesang im Großchor seine volle Wirkung nicht dem einzelnen Sänger, sondern dem durch den räumlichen Abstand für den Gesamtklang aufnahmebereiten Zuhörer. Die Kleingruppe kommt hingegen sehr wohl in den Genuss ihres eigenen musikalischen Tuns. Aktives Singen und Musizieren hat demnach immer auch mit „Hingabe“ zu tun, mit intensiver und konzentrierter Zuwendung an das Kunstwerk und mit der Bereitschaft, Zuhörer am eigenen musikalischen Erlebnis teilhaben zu lassen.

Diese Grundeinstellung zu vermitteln und ins Bewusstsein der Singwochenteilnehmer zu rücken, halte ich für eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen jeder einzelnen Woche. Sie erleichtert auch die oft mühsame Probenarbeit an schwierigen Werken, die seit meiner 35-jährigen Chorleitertätigkeit gezielt in das Programm der Turnersee-Singwochen aufgenommen wer- den. Ebenso hat die Vielfalt des musikalischen Angebotes, die nahezu alle wesentlichen Sparten chorischen Singens umfasst, das Leistungsniveau angehoben und der Singwoche musikalische Reputation eingebracht. Ein Blick in die Literaturliste der letzten zehn Singwochen und ein kurzes Hineinhören in die Dokumentations-CD „50 Jahre Anderluh-Singwoche“ kann das im Detail verdeutlichen.

Freilich ist die musikalische Realisation der einzelnen vokalen und instrumentalen Werke immer auch im Hinblick auf die begrenzte Probenarbeit und auf die von den Teilnehmern eingebrachte unterschiedliche Chorerfahrung zu beurteilen. Die Perfektion (semi)professioneller Leistungschöre kann nicht das Ziel einer frei zugänglichen Singwoche sein. Wohl aber sollte jede Sängerin, jeder Sänger die Möglichkeit nutzen, das Verständnis und Einfühlungsvermögen in unterschiedliche Klangformen und Stile zu erweitern und so einen besseren persönlichen Zugang zur Musik finden. Dass dieses Bemühen in vielen Fällen „greift‘“, bestätigen manche der in dieser Jubiläumsschrift nachzulesenden Berichte.

Die inselhaft abgeschlossene Idylle des Turnersees hätte von Anfang an eine eigenständige — von der allgemeinen Chorentwicklung abgesetzte — musikalische Entwicklung ermöglicht. Dieser Gefahr ist schon Anton Anderluh begegnet, indem er über die damals in den meisten Kärntner Chören verbreitete Literatur hinausgegangen ist, so z.B. durch die gezielte Pflege von geistlichen und weltlichen Werken aus Renaissance und Barock.

Ich bin diesen „Weg der Öffnung“ weitergegangen und habe der Singwoche ein breites Spektrum der Romantik und Bewältigbares aus der Moderne, einschließlich fremdsprachlicher Folklore und gehaltvoller Gospels erschlossen. Einen besonderen Schwerpunkt konnte ich durch die Bearbeitung und Pflege von Liedern aus zum Teil noch bestehenden und ehemaligen Sprachinseln in Ost- und Südosteuropa setzen und damit schon in den Achtzigerjahren die „kulturelle Osterweiterung“ einleiten. Davon ausgehend kam es dann zu regelmäßigen Einladungen rumänien- und ungarndeutscher Sängerinnen und Sänger wie auch Chorleiter zur Turnersee-Singwoche. Sie alle nehmen diese Angebote dankbar an und lassen sie in ihre kulturelle Volksgruppenarbeit einfließen.

Der Weiterbestand der Singwoche, die während der letzten Jahrzehnte ein solides und allgemein anerkanntes musikalisches Niveau erreicht hat, wird entscheidend von der sensiblen Beobachtung der allgemeinen chorischen Entwicklungen im mitteleuropäischen Raum abhängen, die — soweit es in einer kurzfristigen Probenwoche machbar ist — in der Programmgestaltung und in der Qualität der musikalischen Realisation zu reflektieren sein werden.Das heißt nicht, dass die Singwoche jeden kurzlebigen modischen Trend und jedes Experiment mitvollziehen wird. Sie soll aber die Bereitschaft zeigen, neue Wege wenigstens versuchsweise zu beschreiten und damit vor allem der Jugend den Anreiz bieten, Chormusik als Herausforderung anzunehmen. Die Erweiterung des musikalischen Horizontes ist darüber hinaus allen Altersstufen anzuempfehlen. Sie ist die Wurzel und Basis jeder kreativen und nachschöpferischen Entwicklung, ohne die uns der reiche Schatz abendländischer Musik nicht in so vielfältiger und beglückender Fülle zur Verfügung stehen würde. Auf dieser abgesicherten Grundlage ist auch das eine oder andere Experiment — natürlich immer ausgehend von der Leistungsfähigkeit des Chores — kein bedrohliches Risiko. Die Singwoche hat in jedem Fall genügend Anteile, die durch starkes Beharrungsvermögen gekennzeichnet sind. Ich denke hier vor allem an das Volkslied, das in angemessener harmonischer und satztechnischer Schlichtheit erklingt und nur in Ausnahmefällen in kunstvollen Bearbeitungen (z.B. Brahms, Reger, David, Eben) vorgestellt wird.

Schon Anton Anderluh hat vor einer einseitigen Volksliedpflege gewarnt, wenn er schreibt: „Ich hatte von Anfang an die Absicht, ein solcherart gestaltetes Singen nicht allein auf dem Volkslied aufzubauen, sondern auch Madrigale, geistliche Chorwerke und wenn möglich auch ein größeres, sechs- bis achtstimmiges Chorwerk in den Studienplan aufzunehmen. Es zeigte sich nämlich auch bei ernster Volksliedarbeit durch mehrere Tage, dass diese durch die leichte Singart ohne jede Problematik zum Spielerischen ausartet und auf die Dauer nicht befriedigt. Durch lange andauernde leichte Kost wird man nicht satt. Erst eine hart zu knackende Nuss vermag die Singlust und die Freude am Erarbeiteten zu steigern.“ (Aus: Anton Anderluh: Singwochen am Turnersee. In: „20 Jahre Turnersee-Singwoche“; herausgegeben vom Landesmuseum für Kärnten in der Reihe „Kärntner Heimatleben“, Band 12, Klagenfurt 1971).

Auch wenn „Volkslied“ und „Volksmusik“ Teil des geistigen Profils eines Landes sind, ist das Regionale nach der neueren volkskundlichen Sichtweise stets als Basis und nicht als Ziel anzustreben, als Farbe und Charakter. Denn, so schreibt Josef Dünninger 1956 in einem Beitrag zur 4. Arbeitstagung „Volkskunde und Rundfunk“, „wo das Regionale erstarrt, sich ganz in sich selbst verkriecht, sich in sich zurückzieht, rückschrittlich wird, wo es sich einzig und allein als Maß nimmt, da entsteht ‚Provinzialismus‘“.

Die Überbewertung von Alt- und Restformen ist ein Problem, das nicht nur Sänger und Musikanten, sondern auch Chorleiter und Medienleute zu einer einseitigen Schau und zu falschem Volksromantizismus führen kann. In meiner Chor- und Singwochenarbeit habe ich mich immer bemüht, das Lebendige und Bewegende regionaler Kultur ins Bewusstsein zu rücken, wodurch auch Nichtkärntnern überraschend schnell der Zugang zum Wesen bodenständigen Singens geöffnet wird. (Die entsprechenden Liedbeispiele auf der Jubiläums-CD untermauern diese Behauptung!)

Neben den dichten musikalischen Erlebnissen einer Singwoche wird immer wieder das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft als wichtige Motivation zur Teilnahme angeführt. Ich meine, dass hiebei neben den durch das Heim vor- gegebenen Wohnmöglichkeiten, der Kontaktnähe bei Tanz und Spiel, den gemeinsamen Wanderungen und geselligen Abendrunden der Probenarbeit im Chor und in den Musikgruppen ein besonderer gemeinschaftsformender Stellenwert zukommt. Aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich stimmlich und musikalisch in einen größeren Klang einzufügen, schwächere Sänger „ins Schlepptau zu nehmen“, sich auf die musikalische Struktur eines Kunstwerks zu konzentrieren, die persönlichen Fähigkeiten voll einzusetzen, ohne den harmonischen Gesamtklang zu stören, kurzum seine volle geistige und stimmliche Potenz für die Klangwerdung eines Kunstwerkes aufzubieten, das sind Kräfte und Tugenden, die über das Medium Musik gemeinschaftliches Denken und Empfinden fördern und festigen.

Wer je beim Erarbeiten oder bei der Aufführung eines Chorwerkes — ein- schließlich des Volksliedes — innerlich berührt und seelisch ergriffen war — und sei es nur über wenige Takte hin — wird die Kraft der Musik immer auch in einer Wechselbeziehung mit Gemeinschaft erleben.

Dass der Gesang nicht immer Flügel ansetzt, sondern oft erdgebundene Mühsal ist, weiß jeder Singwochenteilnehmer. Und sie kommen immer wieder, die „Singvögel‘“ vom Turnersee, um dieses Wechselspiel von Licht und Dunkel mitzutragen und mitzuerleben.

Ich bin glücklich, nun schon seit 35 Jahren an den musikalischen „Schalthebeln“ dieser „Erlebnisarena“ stehen zu dürfen und danke allen, die mir dabei helfend zur Seite gestanden sind: den Stimmbildnerinnen Ilse Bernhard (geb. Österreicher) und Ines Miller, Maria Martin, unserer Physiotherapeutin, die in früher Morgenstunde Lahme zu springenden Hirschlein macht; ich danke Theresia Lentsch und Herbert Miklin, unter deren Anleitung und musikalischer Wegweisung der Tanz viel Freude macht. Dankbar verbunden fühle ich mich nunmehr seit 25 Jahren Bruno Öttl, dessen poetische Morgengaben aus der Singwoche nicht mehr wegzudenken sind. Für die organisatorische Vorbereitung und Durchführung danke ich dem Kärntner Volksliedwerk und dem „Verein der Freunde des Turnersees“, dessen Obmann Ing. Arnulf Eckert mit seiner Gattin die Hauptarbeit der Organisation bewältigt. Zu Dank verpflichtet sind wir natürlich auch Chefköchin Aloisia und Lagerwart Alois Reisinger, die uns das Leben und Arbeiten, das Genießen und Feiern im Karl-Hönck-Heim des Vereins „Kärntner Grenzland“ über viele Jahre hinweg so angenehm machten.

Alle diese Persönlichkeiten trugen dazu bei, dass die Singwoche zwar „in die Jahre gekommen ist“, dass sie sich aber durch das ungebrochene Interesse so vieler Sängerinnen und Sänger aus nah und fern im „besten Alter“ fühlen kann.

In dankbarer Verbundenheit wünsche ich uns allen ein schönes und würdiges
Geburtstagsfest.

Euer
Helmut Wulz